AD(H)S im Erwachsenenalter und seine

stressbedingten  

Begleit- und Folgeerkrankungen

 

Wissenschaftliche Studien bestätigen jetzt, was in der Praxis schon viel länger bekannt ist, dass über die Hälfte aller Erwachsenen, die ein AD(H)S haben oder in der Kindheit unter einer ausgeprägten AD(H)S- Problematik litten, später unter psychischen oder psycho-somatischen Erkrankungen leiden. Meist befinden sie sich deret- wegen schon jahrelang in Behandlung, jedoch nicht selten ohne zufrieden stellendem Erfolg. Aber noch immer ist der Zusammenhang von AD(H)S und dessen mögliche Begleit- und Folgeerkrankungen im Erwachsenenalter zu wenig bekannt. So wurden bisher vielfach nur einzelne Symptome behandelt ohne Berücksichtigung deren eigentlicher Ursache.

 

Worin besteht der Zusammenhang von AD(H)S und Stress?

 

Die über Jahrzehnte bestehende und für AD(H)S typische neuro-biologisch bedingte veränderte Art der Informationsverarbeitung führt unter zunehmender Belastung zum Dauerstress mit all seinen negativen Folgen. Dieser Stress wird dann zum Bindeglied zwischen AD(H)S als Ursache und verschiedenen psychischen und psycho-somatischen Erkrankungen. Die wichtigsten dieser Begleit- und Folgererkrankungen sind: Ängste, Zwänge, das Burnout-Syndrom, Depressionen und Essstörungen. Diesen Zusammenhang kennen, das würde vielen Betroffenen wesentlich bessere Behandlungs-erfolge verschaffen.

 

Bei AD(H)S besteht eine angeborene große Stressempfindlichkeit, die auf Dauer das Abwehrsystem schwächt. Negativer emotionaler Dauerstress ist eine der häufigsten Ursachen für Ausbruch oder Verstärken von allergischen Erkrankungen bei AD(H)S-Betroffenen, besonders wenn noch eine genetische Veranlagung für Allergien besteht. Fast 60% aller AD(H)S-Betroffenen entwickeln entweder in der Kindheit oder später eine Allergie. Das ergab meine statistische Auswertung von Praxisdaten, ebenso deuten sie auf einen Zusammenhang von stressbedingten Herz-Kreislauferkrankungen im Erwachsenenalter und AD(H)S hin.

 

Beim ausgeprägten AD(H)S besteht von Anfang an eine Reizüber-flutung des Gehirns, die je nach Schwere und Dauer der Belastung und der Schwere des Betroffeneseins  emotionalen negativen Dauerstress auslöst oder verstärkt. So wird Stress zum Bindeglied zwischen AD(H)S und seinen Begleit- oder Folgeerkrankungen (Komorbiditäten).

Ausgeprägte AD(H)S-Symptome bedeuten Stress und das nicht nur für die Betroffenen.

 

Was bedeutet Stress?

 

•        Stress ist eine Störung des Gleichgewichts zwischen                          Belastung und Erholung

•        Unsere Gehirn entscheidet, wie der Körper auf Stress

         reagiert: positiv, wenn er als erfolgreiche Herausforderung

oder

         negativ, wenn er als Bedrohung wahrgenommen wird

•        Je stabiler wir psychisch sind, desto besser können wir lernen,

         mit Stress umzugehen

 

Beim AD(H)S besteht eine Beeinträchtigung der

•        Aufmerksamkeit und Konzentration

•        Wahrnehmung und Informationsverarbeitung

•        Automatisierung der Gedächtnisbahnen

•        emotionalen Steuerung

•        Frust- und Stresstoleranz

•        Feinmotorik

•        sozialen Kompetenz und des Selbstwertgefühls

 

Stress ist aber auch eine wichtige Katastrophenreaktion, die überlebenswichtig sein kann!

Stresshormone werden bei Gefahr in die Blutbahn gegeben, was bewirken sie? 

 

  • Sie verändern die Wahrnehmung, indem sie den Blickwinkel auf die drohende Gefahr hin zentrieren
  • Sie verengen die peripheren Blutgefäße
  • Sie erhöhen Blutdruck, Herzfrequenz, Blutzucker und Muskeltonus
  • Stress bedeutet abwehr- und kampfbereit zu sein

Aber dauerhaft kampfbereit zu sein, bedeutet, sich immer angegriffen zu fühlen und verändert unsere Wahrnehmung wie folgt:  

 

Stress 

I 

veränderte Verarbeitung der Wahrnehmung

I 

kognitive und emotionale Überforderung 

I 

reaktive Fehlentwicklung 

I 

Ängste und Aggressionen 

I  

psychosomatische Beschwerden 

I 

erneuter Stress

I 

                                                   usw.  d.h. Dauerstress 

 

 

Negativer Dauerstress ist eine große gesundheitliche Belastung besonders für die Menschen, die überempfindlich auf Stress reagieren infolge einer neurobiologischen Besonderheit ihres Gehirns. Bei ihnen findet man deshalb häufig:

 

•        Blackout-Reaktionen

•        Burnout-Symptome

•        Störungen des Schlaf-Wachrhythmus

•        Muskuläre Verspannungen

•        Schwächung des Abwehrsystems

•        Herz-Kreislauferkrankungen

•        Serotoninmangel mit Ängsten, Zwängen, Depressionen

•        Essstörungen

•        reduzierte Libido

 

Die häufigsten Begleit- und Folgeerkrankungen von AD(H)S sind:

 

Blackout-Reaktionen:

Hierbei wird das Arbeitsgedächtnis durch Stress überlastet und es reagiert mit einem „Kurzschluss“. Alles Gelernte kann plötzlich nicht mehr abgerufen werden. Erst zeitlich versetzt nach Entspannung ist das Wissen wieder abrufbar. Beim AD(H)S ist Blackout ein gefürchtetes und häufiges Symptom, wenn keine Gegenmaß-nahmen zum Stressabbau unternommen werden.

 

Burnout:

Auch das ist für Erwachsene mit AD(H)S typisch, aber nicht nur, es kann auch viele andere Ursachen haben. Viele AD(H)S- Betroffene

versuchen ihre vorhandenen und gespürten Defizite in den kogni-tiven, emotionalen und sozialen Bereichen bei zusätzlich anlage-bedingter Überempfindlichkeit durch erhöhten Arbeitseinsatz auszu-gleichen. Sie entwickeln einen hohen Selbstanspruch und müssen immer wieder erleben, dass ihnen vieles schlechter als erwartet gelingt. Also arbeiten sie noch länger und noch intensiver, um sich zu bestätigen und um durch Erfolge und Anerkennung ihr Beloh-nungssystem zu aktivieren.

 

Schlafstörungen

Sie beeinträchtigen vor allem Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit und sie sind besonders häufig bei AD(H)S-Betroffenen vorhanden. Einschlafstörungen sind bedingt durch zu viele Gedanken im Kopf, die nicht ausgeblendet werden können. AD(H)S und Durchschlaf-störungen treten auf, weil auch das Gehirn im Schlaf keine Entspan- nung findet und „weiterarbeitet“. Als Kind waren manche Betroffene deshalb Schlafwandler. Das Schlafprofil ist beim AD(H)S meist gestört, der Wechsel vom Flach- zum Tiefschlaf erfolgt schneller und kürzer. Die Schlafphasen wechseln sich häufiger ab.

 

Muskuläre Verspannungen

Sie können durch Stress ausgelöst werden. Sie  äußern sich dann  meist als Nacken- oder Rückenschmerzen. Auch Zähneknirschen könnte eine Folge von Verspannungen der Unterkiefermuskulatur sein. Bestehen solche Stress-bedingten muskulären Verspannungen über Jahre oder gar Jahrzehnte, kann sich eine Fibromyalgie- ähnliche Symptomatik entwickeln. Jedenfalls klagen nicht wenige ältere Menschen, bei denen erst nach ihrem 50. Lebensjahr ein AD(H)S diagnostiziert wurde, unter Fibromyalgie-ähnlichen Symp- tomen, die sich oft auch unter einer multimodalen AD(H)S-Therapie bessern. Davon sind Frauen wegen ihrer genetisch bedingten größeren emotionalen Empfindlichkeit wesentlich häufiger betroffen. 

 

Negativer Dauerstress schwächt das Abwehrsystem. Deshalb sind Menschen mit ausgeprägter AD(H)S-Problematik oft anfälliger für Infektionen und allergischenErkrankungen. Genauer habe ich diesen Zusammenhang in meinem Artikel über ADH)S und Allergie (s.o.) beschrieben.

 

Stress reduziert die Bildung von Serotonin, weshalb es bei ent- sprechender Veranlagung, z. B. bei AD(H)S mit negativem Dauerstress zu verschiedenen psychischen Erkrankungen infolge Serotoninmngel kommen kann, wie z. B. Depressionen, Angststörungen und Zwänge.

 

Die Art, wie Menschen auf negativen Dauerstress reagieren, erfolgt im Wesentlichen auf zweierlei Weise:

 

   TYP A:

•        leicht erregbar, aufbrausend und nervös. Dauerstress führt zu

         Bluthochdruck und Herzinfarkt

•        Typ A entspricht dem hyperaktiven, extrovertierten AD(H)S-Typ

 

   Typ B:

•         äußerlich ruhig, angepasst, sie schlucken ihren Ärger herunter

          und geben sich für alles selbst die Schuld

•        Dauerstress führt bei ihnen zu Depressionen, Zwängen,  

          Beschwerden im Magen-Darmbereich und zu  Allergien

•        Typ B entspricht dem unaufmerksamen, introvertierten

          ADS-Typ

 

Diese Eigenschaften der beiden Stresstypen haben Gemeinsam-keiten mit den beiden Haupttypen des AD(H)S (mit und ohne Hyperaktivität). Dabei fungieren die AD(H)S- bedingten Funktions-beeinträchtigungen als Verursacher von negativem Dauerstress.

Bei AD(H)S sind folgendeFunktionen beeinträchtigt:

•        Es besteht eine Reizüberflutung des Gehirns infolge

         Filterschwäche bei Stirnhirnunterfunktion

•        Aufmerksamkeit und Konzentration können nicht willentlich

          konstant gehalten werden

•        Selbstorganisation und Aktivierung für Routinetätigkeiten

          fallen schwer

•        Die Gefühlssteuerung ist spontan und ungebremst

•        Zwischen Kurz- und Langzeitgedächtnis kommt es zu  

          Informationsverlusten

•        Verschiedene motorische Bereiche können betroffen sein

 

Ohne professionelle Hilfe führt AD(H)S zur inneren Verunsicherung, die den Stress noch verstärkt und damit folgenden Kreislauf in Gang setzen kann:

 

Wenn innere Verunsicherung zum Stress wird

 

verändert sich die Bewertung der Wahrnehmung, alles empfindet man als gegen sich gerichtet

Psychische Belastung

Schlechtes Selbstwertgefühl

+

Erwartungs- und Versagensängste

Vermeidungsverhalten

+

Belastende aktuelle Lebensereignisse

Dauerstress

 

 

 

Auch durch Essen kann Stress abreagiert werden, da es folgenden Kreislauf unterbricht und somit innerlich beruhigend wirkt:

 

Stress – Blutzuckeranstieg – Insulinabgabe ins Blut – Absturz des Blutzuckerspiegels – Heißhunger – Essgier – ungebremste Nahrungsaufnahme- Anregung des Belohnungsystems

 

Infolge eines periodisch auftretenden Gefühls von stressbedingtem Heißhunger kommt es zu unkontrolliertem Essen, das beruhigt und baut Frust ab mit der Gefahr von Übergewicht! 

Bei Angst vor Gewichtszunahme, Gefühl der Reue und Erbrechen; automatisiert sich das Erbrechen, besteht die Gefahr der Entwick- lung einer Bulimie (Ess-Brechsucht).

 

Bei Anderen dagegen „schnürt Stress die Kehle zu“. Sie können bei Stress nichts essen. Ihr Blutzuckerspiegel bleibt hoch, sie verspüren kein Hungergefühl. Deshalb fällt ihnen auch eine Gewichtabnahme leichter. Abnehmen ist für sie kein Problem.

•        Bei einem ADS`ler mit hohem Selbstanspruch, fehlender Anerkennung, schlechtem Selbstwertgefühl und veränderter Wahrnehmung, kann Kalorienzählen zwanghaft werden und außer Kontrolle geraten

•        Der Zwang wird zur Sucht, wenn er das Belohnungszentrum aktiviert, welches dann Glückshormone ausschüttet. So wird das Zählen von Kalorien für die Betroffenen zum wichtigsten Teil ihrer Persönlichkeit, der sie psychisch stabilisiert.

 

Zwanghaftes Abnehmen (Magersucht) – bei AD(H)S 

Welcher Zusammenhang besteht?

 

•        Wunsch nach Zuwendung und Anerkennung bei hohem

          Anspruchsniveau an sich und andere

•        Anhaltende Enttäuschungen bei geringem Selbstwertgefühl

•        Aggressive Anspruchshaltung bei dem Gefühl, nicht ver-  

         standen zu werden

•        Zwanghaftes Einengen der Gedanken auf Erfolg und

          Anerkennung

•        Zwanghaftes Kalorienzählen zur Selbstbestätigung durch

          Gewichtsabnahme und zum Frustabbau

•        Der Drang abzunehmen, "schlank zu sein“ und ständiges

         Kalorienzählen automatisieren sich durch die ständigen Wiederholungen, werden dann zu zwanghaften

         Gedanken und Handlungen, die bei Erfolg das  Belohnungs-

         zentrum aktivieren, das dann Glückshormone ausschüttet. So

         beginnt die Entwicklung zur Sucht.  

Diese Sucht dient dann der Aufrechterhaltung des psychischen Gleichgewichts und der Selbstbestätigung. Den Betroffenen dieses "Erfolgsrezept" zu nehmen gelingt nur, wenn man ihnen Möglichkei- ten bietet, auf andere weise Erfolge zu haben, die ihr Belohnungs-system ebenfalls aktivieren. Das bedeutet bei AD(H)S und Mager-sucht, den Betroffenen zu ermöglichen, Erfolge zu haben, die ihr Selbstwertgefühl und ihre soziale Kompetenz verbessern.

 

Erwachsene mit AD(H)S leiden vermehrt unter Herz-Kreislauferkran-kungen. Auch hierbei wirkt der negative Dauerstress bei genetisch bedingter Stressüberempfindlichkeit als Bindeglied zwischen psychi- scher Belastung und organischer Erkrankung. Die Auswirkungen von Stress auf den Körper sind folgende:

 

•        Blutdruckerhöhung

•        Herzrhythmusstörungen

•        Fettstoffwechselstörung

•        Erhöhter Blutzucker

•        Insulinresistenz

•        Diabetes plus Übergewicht plus hohe Cholesterinwerte können   Ausgangspunkt für ein Metabolisches Syndrom sein mit der  

         Gefahr von Herzmuskelüberlastung und Herzinfarkt

 

Deshalb ist Stressabbau ein wichtiger Bestandteil jeder AD(H)S-Behandlung, damit es nicht zur Ausbildung der oben genannten stressbedingten Begleit- und Folgeerkrankungen kommt.

 

Frühbehandlung bedeutet allgemein:

 

•        Stress und Konflikte vermeiden

•        Reize regulieren, Reizüberflutung verhindern

•        Wahrnehmungsfähigkeiten verbessern

•        Grenzen, Struktur und Rituale schaffen

•        Selbstvertrauen aufbauen durch Erfolge

•        Eine altersentsprechende Entwicklung von Selbstwertgefühl  

          und sozialer Kompetenz ermöglichen 

sich sein gutes  Selbstwertgefühl erhalten 

•        Stressabbau- und Entspannungstechniken erlernen

•        Mehr körperliche Bewegung

 

Stress und Reizüberflutung beginnen uns zu beherrschen, dadurch nehmen die stressbedingten Krankheiten immer mehr zu, folglich auch die Häufigkeit und die Schwere der AD(H)S- Problematik .


        

Schwerpunkte der Frühbehandlung von AD(H)S sind:

  • Ausreichend lange genug behandeln mit professioneller Begleitung und Therapieabbrüche vermeiden.
  • Mehr Berücksichtigung derAD(H)S- Problematik bei der Diagnostik und Therapie von psychischen und psychosomatischen Erkrankungen im Erwachsenenalter.

 

                                                            September 2020

 

Interessierte Leser können in den folgenden Büchern von mir,  

die beide im Kohlhammer Verlag erschienen sind, mehr darüber erfahren:

„Die vielen Gesichter des ADS -  

Begleit- und Folgeerkrankungen richtig erkennen und behandeln“  

ISBN: 978-3-17-019835-7, 5. Auflage

 

„Essstörungen und Persönlichkeit-

Magersucht, Bulimie und Übergewicht - Warum Essen und Hungern zur Sucht werden"

ISBN  978-3-17-020848-3, 3. Auflage