AD(H)S im Erwachsenenalter - endlich als Diagnose anerkannt

 

Sehr viele Erwachsene durchleben Leid und Enttäuschungen bis sie endlich begreifen, dass sie wahrscheinlich ein AD(H)S haben. Bis zu dieser Diagnose suchten sie meist vergeblich nach professioneller Hilfe. Sie bekamen nicht selten Diagnosen und Therapien, die ihre Erwartungen weckten, aber meist enttäuschten. So fanden sich viele mit ihrem Schicksal ab, verunsichert und voller Selbstzweifel. Selbstvertrauen und vorhandene Fähigkeiten gingen mit der Zeit immer mehr verloren.

Erst mit der Diagnose AD(H)S wurde ihnen klar, warum vieles im Leben für sie so viel schwieriger war. Dass sie trotz Anstrengung nicht das erreichten, was sie eigentlich wollten und was anderen dagegen ohne Mühe gelang. Erst die Diagnose AD(H)S kann jedem Betroffenen Hoffnung geben auf eine reale Chance für einen Neuanfang. Leider ist die Suche nach entsprechenden Therapeuten noch immer sehr schwierig. Je zeitiger ein AD(H)S erkannt und bei ausgeprägter Problematik mit einer multimodalen Therapie behandelt wird, desto besser sind die Erfolge. Für eine AD(H)S-Therapie ist es nie zu spät, vorausgesetzt der Betroffene ist nach so vielen Enttäuschungen noch dazu bereit. Es sollte jeder, der den Verdacht hat, ein AD(H)S zu haben, sofort beginnen sich gründlich darüber zu informieren, was AD(H)S eigentlich bedeutet. Dann eine Selbsthilfegruppe suchen, um dort von den Erfahrungen der Betroffenen zu lernen und wissenschaftlich fundierte Literatur zu lesen. Man sollte sein AD(H)S-bedingtes Denken und Handeln begreifen, um zu erfahren, wie man vieles ändern kann. In der Selbsthilfegruppe gibt es erfahrungsgemäß auch die besten Adressen von geeigneten Therapeuten.

Zu begreifen, was AD(H)S wirklich ist, hilft den Betroffenen, vieles aus der eigenen Vergangenheit zu verstehen, manches neu zu bewerten, sein Leben zu verändern, es den individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten anzupassen. Dazu braucht es klare und erreichbare Ziele, viel Motivation, ein reales Selbstbild, Kraft, Mut und Selbstvertrauen. Dieser Neuanfang ist nicht immer leicht, er ist steinig und steil, aber erfolgreich, wenn man kämpft und nicht resigniert. Deshalb nicht warten bis man auf den passenden Therapeuten trifft, sondern im sozialen Umfeld oder über die Selbsthilfegruppe einen Coach finden, der hilft, das bisherige Denken und Handeln besser zu verstehen und einige Sichtweisen zu verändern. Ist die Diagnose AD(H)S erst einmal gestellt, sollte man nicht den Versäumnissen der Vergangenheit nachtrauern, sondern lernen, von nun an manches anders und besser zu machen. Nicht klagen, sondern seine Fähigkeiten als Ressourcen nutzen. Denn jeder AD(H)S-Betroffene verfügt über besondere Fähigkeiten, auch außergewöhnliche Wege zu gehen.

 

Am Beginn der Therapie steht die Beantwortung der Frage: Was bedeutet AD(H)S, was ist anders und warum ist das so? Leider bestehen hierbei noch immer viele Missverständnisse und Vorurteile, so dass es nicht immer ratsam ist, jeden über „sein“ AD(H)S zu informieren. Denn AD(H)S ist keine Krankheit an sich, sondern eine neurobiologisch bedingte Persönlichkeitsvariante, die alle Entwicklungsstufen auch zu deren Vorteil prägen kann, wenn man sich dessen bewusst ist und zeitig genug gegensteuert. Nachteilig für alle Betroffenen ist, wenn sie einer ausgeprägten AD(H)S-Symptomatik ohne Hilfe und Verständnis über Jahre ausgeliefert sind. Dann kann AD(H)S zur Krankheit werden.

 

Die Ursachen von AD(H)S sind Stirnhirnunterfunktion und Botenstoffmangel, die zur Reizüberflutung des Gehirnes führen mit Beeinträchtigung der Informationsverarbeitung. Die Ausbildung funktionstüchtiger dichter Lernbahnen, die eine Voraussetzung für die Automatisierung des Lernens und Verhaltens sind, ist beim AD(H)S erschwert. Es gilt also mit Hilfe der Therapie aus dem fein verzweigten neuronalen Netz Lernbahnen zu formen zur Verbesserung der Informationsverarbeitung. Das erfordert ein gezieltes und regelmäßiges „Lerntraining“. Bringt das allein keinen Erfolg, dann sollten Stimulanzien verordnet werden, da sie die genetisch bedingten Unterfunktionen einiger Hirnbereiche und den Botenstoffmangel ausgleichen können.

Dazu ist ein Ziel gerichtetes Selbstmanagement erforderlich, denn Medikamente allein beseitigen auf Dauer nicht die unerwünschten AD(H)S-Symptome. Um sein Selbstwertgefühl und sein Sozialverhalten zu verbessern, muss jeder aktiv mitarbeiten! Das bedeutet, mit Hilfe eines individuellen Selbstmanagements geeignete Lern- und Verhaltensstrategien zu entwickeln, diese täglich anwenden, um mit ganz konkreten Zielen seine individuell unterschiedlichen Probleme zu beseitigen. Bisher nicht beachtete Fähigkeiten wieder zu entdecken, zu fördern, erfolgreich anzuwenden, um endlich die lang ersehnte soziale Anerkennung zu erlangen. Denn AD(H)S-Betroffene leiden meist unter einer dauerhaften Überforderung mit fehlender Anerkennung, was negativen Dauerstress erzeugt.

 

Immer zwei bis drei Therapieziele benennen, jeder nach seiner individuellen Problematik. Diese formulieren, dokumentieren, täglich überprüfen, gespürte Erfolge registrieren und konsequent arbeiten. Seine positiven Fähigkeiten fördern und selbstbewusster werden, trotzdem alles hinterfragen, sich nicht verunsichern lassen. Die in meiner Praxis für AD(H)S am häufigsten genannten Therapieziele waren:

- Sich besser konzentrieren können,

- Nicht so viel zu vergessen,

- Innerlich zur Ruhe zu kommen,

- Weniger unter Stress zu leiden,

- Geborgenheit und Harmonie in der Familie,

- Soziale Anerkennung im Beruf erfahren,

- Über soziale Kompetenz verfügen mit der Fähigkeit,

  sich angemessen wehren und seine Gefühle besser steuern zu können,  

- Sich mehr zuzutrauen,

- Von seinen vorhandenen Fähigkeiten profitieren können,

- Meine Leistungsfähigkeit verbessern,

- Über existentielle Sicherheiten zu verfügen,

- Eine harmonische Partnerschaft,

- Nicht so viel Stress und Erfolge bei der Kindererziehung.

Die Therapie sollte möglichst mit dem Problem beginnen, was derzeit den Betreffenden am meisten belastet. Dabei immer Prioritäten setzen, die gestellten Ziele dann nacheinander schrittweise abarbeiten. Seine Ziele klar und termingerecht definieren, mit Hilfe täglicher Vorsätze und konkreter Lern- und Verhaltensstrategien an deren Realisierung arbeiten. So können sich im Gehirn die dafür erforderlichen „dichten“ Lernbahnen ausbilden. Jede unnötige Reizüberflutung ist unbedingt zu vermeiden, die verordneten und erforderlichen Medikamente regelmäßig einnehmen. Therapie begleitend für Ruhe und Entspannung sorgen und nach Möglichkeit sich sportlich betätigen.

 

Erfolge sind der Motor für die Motivation zur Weiterführung der Therapie!

Gelöste Probleme bringen Erfolg und Anerkennung. Dabei gilt es zu lernen, Kompromisse einzugehen, sich von zu hohen Erwartungen zu trennen, sozial angepasst seine Ziele durchzusetzen und sich angemessen wehren. Bei ihrem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, verbunden mit ihrer Impuls- und Gefühlssteuerungsschwäche fällt manches davon den AD(H)S-Betroffenen besonders schwer. In unserer heutigen Gesellschaft arbeiten die allermeisten Menschen weitgehend fremdbestimmt und müssen sich den Firmenhierarchien unterordnen, ohne dabei große Möglichkeiten der Selbstentfaltung zu haben. Unter diesen Bedingungen können leider viele AD(H)S-Betroffene ihre einzigartigen und kreativen Fähigkeiten oft nicht zur Geltung bringen. Deshalb ist die Berufswahl von entscheidender Bedeutung. Haben Menschen mit AD(H)S die Möglichkeit, im Beruf oder als Hobby ihre besonderen Fähigkeiten zu entfalten, dann gelingen ihnen nicht selten hervorragende Ergebnisse, was aus der Vergangenheit hinlänglich bekannt ist. Deshalb sollten Menschen mit der Diagnose AD(H)S das für sich auch unbedingt als eine Chance nutzen, ihr Leben umzugestalten, um endlich mit sich zufriedener zu sein und die Gesellschaft mit ihren hervorragenden Fähigkeiten zu bereichern. Leider wird AD(H)S bisher noch viel zu oft als nur negativ und belastend angesehen.

 

Eine interessante Studie von 2016: Erwähnenswert ist diese Studie von der Technischen Universität München deshalb, weil hier ein internationales Team von Ökonomen zu folgendem Ergebnis kam: „Unternehmer mit ADHS zeichnen sich durch eine Bereitschaft aus, mit Leidenschaft und Beharrlichkeit Neues auszuprobieren. Ihre intuitiven Entscheidungen sind ein Grund, bisherige Modelle der Wirtschaftswissenschaft infrage zu stellen.“

Professor Holger Patzer von der Technischen Universität München fasst das Ergebnis dieser Studie wie folgt zusammen: „ADHS war ein wesentlicher Faktor bei der Entscheidung, sich selbständig zu machen, was durch die Ausprägung wichtiger unternehmerischer Eigenschaften beeinflusst wurde: Risikofreude, Leidenschaft, Beharrlichkeit und die Bereitschaft, viel Zeit zu investieren. Eine besondere Rolle spielt die Impulsivität. Für Menschen mit ADHS fühlt sich intuitives Handeln richtig an, selbst wenn das Ergebnis schlecht sein sollte. Menschen mit ADHS zeigen uns eine andere Logik, die vielleicht besser zu unternehmerischem Handeln passt“. Endlich einmal etwas Positives über die allen Experten schon längst bekannten positiven AD(H)S-typischen Fähigkeiten, wenn das soziale Umfeld stimmt.

AD(H)S positiv erleben: Ich bin davon überzeugt und die Erfahrungen der Vergangenheit zeigen es immer wieder, dass es gerade Menschen mit AD(H)S waren, die mit ihren besonderen Fähigkeiten wesentlich zum Fortschritt von Wissenschaft und Gesellschaft beitragen. Das wird bisher noch zu wenig anerkannt. Ich möchte jedenfalls allen AD(H)S-Betroffenen Mut machen, sich ihrer Fähigkeiten zu besinnen und wenn sie es wollen, ihr Leben neu auszurichten. Eine Umgebung suchen oder diese selbst schaffen, in der sie entsprechend ihren individuellen Bedürfnissen und Begabungen ein passendes Leben führen können, um mit sich und ihrem sozialen Umfeld zufrieden zu sein. Das erfordert Mut, Kraft und Konsequenz, um sich gegenüber den noch immer bestehenden Vorurteilen durchzusetzen und diese zu ignorieren. Sich von irrealen Erwartungen trennen, auf seine Fähigkeiten vertrauen, falls erforderlich, auch kompromissbereit zu sein.

Ich wünsche allen Betroffenen dabei viel Erfolg.

Dr. Helga Simchen