Stellungnahme zu den Artikeln der „Frankfurter Allgemeinen“ vom 12.02.12
„Ritalin - wer nicht passt - wird passend gemacht“ und
„Wo die wilden Kerle wohnten“
Das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADHS) ist keine erfundene Krankheit und Ritalin macht auch keine wilden Jungen passend!
Viele sprechen oder schreiben über AD(H)S, ohne zu wissen, was AD(H)S eigentlich ist und wie sehr betroffene Kinder, Jugendliche oder Erwachsene darunter leiden können.
Warum zweifeln beim AD(H)S immer wieder so viele an seiner Existenz und warum sind dessen Diagnose und Therapie mit so vielen Unsicherheiten und Zweifeln behaftet?
Ich denke, weil AD(H)S weit mehr beinhaltet als hyperaktiv, impulsiv und unkonzentriert zu sein.
AD(H)S erfordert von seinen Diagnostikern und Therapeuten sowohl neurobiologische Kenntnisse als auch lern- und verhaltenstherapeutische Erfahrungen. Dieser Perspektivwechsel bedeutet, dass eine AD(H)S-Diagnose nicht aus der Summe einzelner aufgelisteter Symptome gestellt werden kann, sondern sie erfordert eine ganzheitliche Betrachtungsweise der bisherigen individuellen Entwicklung der Betroffenen mit Einbeziehung des gesamten sozialen Umfeldes und entwicklungs-neurologische Kenntnisse.
Denn: AD(H)S ist eine über mehrere Gene vererbte, neuro-psycho-soziale Beeinträchtigung der Informationsverarbeitung mit Auffälligkeiten auf der neuromotorischen, emotionalen, kognitiven und Verhaltensebe, deren neurobiologische Ursachen eine Unterfunktion im Stirnhirnbereich, ein Mangel an Botenstoffen und eine soziale Überforderung sind.
Das Stirnhirn reguliert die Impulssteuerung und sorgt dafür, dass nur die im Moment wichtigen Informationen aufgenommen und weitergeleitet werden. Seine Unter-funktion bedeutet Reizfilterschwäche; es gelangen dabei viel zu viel Informationen, auch unwichtige, in das Gehirn. Je nach Schweregrad des Betroffenseins und der inneren und äußeren Belastung ist die Informationsverarbeitung von Anfang an beeinträchtigt. Die ständige Reizüberflutung des Gehirns beeinträchtigt die Aus- bildung dicker Lernbahnen (neuronale Säulen), die erst eine Automatisierung von Lernprozessen und Verhaltensregulierungen ermöglichen. Wiederholtes konzen-triertes Üben ist Voraussetzung für diese Automatisierung, nur so ist ein schnelles und auf Erfahrung beruhendes angepasstes und erfolgreiches Denken und Handeln zu erreichen. Deshalb lernen Menschen mit AD(H)S so schwer aus Fehlern. Sie leiden darunter, dass sie vieles ändern wollen, was ihnen aber nicht gelingen kann, weil ihr neuronales Netzwerk durch die anhaltende Reizüberflutung aus einem feinen Netz kleiner „Nebenstraßen“ besteht. Die für die Automatisierung wichtigen „Autobahnen“ konnten sich nicht altersentsprechend entwickeln. Dadurch werden die Betroffenen innerlich verunsichert, sie reagieren mit Aggressionen oder mit Rückzug, je nach ihrer individuellen, neurobiologisch fundierten Veranlagung.
Beim AD(H)S besteht außer einer Unterfunktion im Stirnhirnbereich auch immer noch ein Mangel an einzelnen Botenstoffen. Botenstoffe (Neurotransmitter) leiten die Informationen von einem Nerv zum anderen weiter und befinden sich in den Schalt-stellen zwischen den einzelnen Nerven. DieseTransporterstörung kann beim AD(H)S mittels Bild gebender Verfahren nachgewiesen werden. Leider nicht in der Praxis wegen des großen Aufwandes und der Verwendungvon radioaktiv markierten Stoffen durchführbar. Andere AD(H)S-bedingte funktionelle Beeinträchtigungen im Gehirn können im Magnetresonanztomogramm (MRT) durch ihren niedrigen Sauerstoff- und Zuckerverbrauch nachgewiesen werden. Nervenzellen, die weniger oder gar nicht „arbeiten“, verbrauchen auch weniger Sauerstoff und Zucker.
Das Gehirn dieser Kinder und Jugendlichen mit einem ausgeprägten AD(H)S funktioniert also anders. Trotz guter oder oft sogar sehr guter Intelligenz können die Betroffenen wegen ihrer anderen Art der neuronalen Vernetzung ihre Aufmerksamkeit nicht gezielt ausrichten und besonders bei Routine-aufgaben nicht aufrechterhalten. Bei großem Interesse und guter Motivation können sie sich aber sehr gut konzentrieren, aber nur dann. Ist ihr Gehirn von Reizen überflutet, haben sie das Gefühl der Langenweile, dann können sie sich auf nichts konzentrieren. Sie „driften“ ab, klinken sich aus, träumen vor sich hin oder beginnen, sich durch motorische Aktivitäten, wie ständiges Bewegen der Arme und Beine, Schaukeln oder Kippeln, ununterbrochenes Reden oder durch anhaltendes Provozieren der Umgebung ihr Gehirn zu stimulieren. Von ihrer Umgebung und vom Unterricht bekommen sie dann kaum etwas mit. Die Gruppe der hyperaktiven Kinder und Jugendlichen (sie sind nicht nur männlich) haben Schwierigkeiten, einmal abgerufene Ant- worten zu überprüfen und evtl. zu korrigieren. Sie sind unkonzentriert, impulsiv, vergesslich, können schlecht zuhören und lernen nicht aus Fehlern. Die Gruppe der vorwiegend Unaufmerksamen hat dagegen Schwierigkeiten, geforderte Antworten schnell genug abzurufen.
Beide Arten von AD(H)S kommen nicht selten in einer Familie vor. Die hypoaktiven Kinder sind auch unkonzentriert, regen sich sehr schnell auf, sind überempfindlich, weinen leicht, fühlen sich ausgegrenzt und immer benachteiligt, da sie sich nicht angemessen wehren können. Sie haben weniger Verhaltensprobleme, dafür aber mehr Schwierigkeiten sich sozial angemessen zu behaupten und beim Lernen. Sie leiden an einem ADS ohne Hyperaktivität mit vorwiegender Unaufmerksamkeit. Diese hypoaktiven Kinder und Jugendlichen (und sie sind nicht nur weiblich) fallen nicht auf, sie leiden still vor sich hin. Sie fühlen sich hilflos und unverstanden und das Schlimmste für sie ist, dass es keiner merkt. Im Unterricht gehen sie ihren eigenen Gedanken nach, die sie immer nur kurz auf den Unterricht ausrichten können. Abgespeichertes Wissen können sie nur langsam abrufen, sich zu entscheiden fällt ihnen schwer, sie reagieren umstellungserschwert. Sie gelten als „verträumt“ und werden auch von ihren Lehrern in den Zeugnissen als solche beschrieben. In ihrer Hilflosigkeit reagieren sie mit sozialem Rückzug. Auch sie bekommen vom Unter- richt wenig mit. Sie wollen aufpassen, es gelingt ihnen aber nicht. Diese Gruppe von ADS-Betroffenen wurde in den oben genannten Zeitungsartikeln gar nicht erwähnt, obwohl sie oft mehr leiden als die Hyperaktiven.
In den Leitlinien zur Diagnostik und Therapie für AD(H)S, die1999 von Wissenschaft- lern erstellt wurden, ist neben ADS mit Hyperaktivität und auffälligem Sozialverhalten, auch diese zweite Gruppe mit vorwiegender Unaufmerksam benannt und damit in ihrer Existenz bestätigt.
Beide Erscheinungsbilder des AD(H)S profitieren vom Methylphenidat und sollten auch damit behandelt werden, wenn es der Schweregrad, der Leidensdruck und das soziale Umfeld erforderlich machen und alle bisher versuchten Maßnahmen und Therapien wenig erfolgreich waren.
AD(H)S ist keine erfundene Krankheit! Methylphenidat macht weder süchtig oder gefügig, es verändert nicht die Persönlichkeit und stellt auch nicht ruhig. Die Diagnose muss aber stimmen und die Verabreichung der Medika- mente muss lern- und verhaltenstherapeutisch begleitet werden mit Anlei- tung der Eltern als Coach. Das Medikament nur allein zu verordnen, ist keine ausreichende Therapie.
Methylphenidat gleicht die Unterfunktion des Stirnhirns und den Botenstoffmangel im Gehirn weitgehend aus. Für eine erfolgreiche Therapie ist aber die Mitarbeit der Betroffenen und ihrer Eltern unbedingt erforderlich. Die Betroffenen müssen ihre Defizite konkret benennen, eigene Vorsätze formulieren und gezeigt bekommen, wie sie ihre Ziele erreichen können. Nur Erfolge motivieren und die Motivation zum erfolgreichen Beseitigen der gespürten Defizite ist der Motor jeder AD(H)S-Therapie. Sie setzt ein individuelles Therapieprogramm voraus mit dem Ziel, Selbstwertgefühl und soziale Kompetenz bleibend zu verbessern.
Methylphenidat verbessert die selektive Aufmerksamkeit, weil unwichtige Störreize ausgeblendet werden und sich dadurch stabile Lernbahnen ausbilden können, die erst eine Automatisierung im Lern- und Verhaltensbereich ermöglichen. Auch seine Nebenwirkungen lassen sich minimieren, wenn man weiß, was deren Ursache ist. Methylphenidat beeinträchtigt auch nicht das Wachstum, das konnten Studien nach- weisen. Aber negativer Dauerstress - und darunter leiden viele AD(H)S-Betroffene - kann die Bildung von Wachstumshormon reduzieren. Dieser soziale Minderwuchs ist in der Kinderheilkunde schon lange bekannt.
AD(H)S nimmt zu, weil auf allen Gebieten heute viel mehr Unruhe und weniger Struktur herrschen. Je stärker die Überflutung mit akustischen und visuellen Reizen sowie mit sozialem Stress ist, umso häufiger und schwerer kommen die Symptome bei genetischer Veranlagung für AD(H)S zum Ausbruch.
Soweit vielleicht das Wichtigste zum Thema: „Was AD(H)S wirklich ist und wie Ritalin wirkt.“ Ich kann nur hoffen, dass ich bei einigen das Interesse wecken konnte, sich intensiver und wissenschaftlich fundierter mit der AD(H)S-Problematik zu befassen zum Wohle der Betroffenen. Denn sie verfügen über ein sehr großes Potential an Fähigkeiten, das ihnen und der Gesellschaft ohne eine entsprechende Behandlung verloren gehen würde. Ohne eine entsprechende Behandlung kann es bei den Betroffenen häufiger als bei Nichtbetroffenen nach der Pubertät oder im jungen Erwachsenalter zu schweren psychische Erkrankungen kommen, wie Angst- und Zwangstörungen, Depressionen, Essstörungen, Drogenabhängigkeit und Burnout.
Dr. Helga Simchen