Das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom bei über 60 Jährigen,

ein Erfahrungsbericht aus der Praxis

 

 

AD(H)S 60 plus beschreiben gleicht einer Zeitreise  

durch die Geschichte des AD(H)S.

 

Aus meiner 16jährigen Tätigkeit im AD(H)S-Kompetenzzentrum in Mainz und der Behandlung von weit über 2000 Patienten mit AD(H)S konnte ich viel darüber erfahren, wie es älteren Menschen mit AD(H)S geht. Die meisten Informationen über diese Generation lieferten mir deren Kinder oder Schwiegerkinder, die wiederum als Eltern ihr Kind zur Diagnostik und zur Behandlung eines AD(H)S in meiner Praxis vorstellten.

Nur sieben kamen als Patienten selbst, die meisten begleiteten ihre Enkelkinder in die ärztliche Praxis und berichteten spontan oder auf Nachfrage über ihre Kindheit oder ihren eigenen Lebensweg. Nur ganz vereinzelt kamen sie als Eltern junger Erwachsener, aber dann waren die Probleme von großer Tragweite.

 

Die Praxis zeigt, dass AD(H)S in jedem Fall über ein breites genetisches Spektrum vererbt wird, als Veranlagung oder Beeinträchtigung, die im Erwachsenenalter weiter bestehen bleiben kann, aber in seinem Verlauf vom sozialen Umfeld und vom Grad der Belastung geprägt wird. Der familiäre Stammbaum Betroffener bietet meist ein breites Spektrum AD(H)S-bedingter Störungen mit vielen interessanten Menschen und deren noch interessanteren Lebensläufen, denn das Leben der Generation über 60 mit AD(H)S im genetischen Profil verlief selten gradlinig. Sie lernten viele Klippen und Hürden zu nehmen und ahnten nicht, warum gerade sie sich viel mehr als andere anstrengen mussten und es ihnen trotzdem nicht so gut gelang wie den anderen. Erst jetzt durch die Diagnose ihrer Enkel erfuhren sie von einer Störung in der Informationsverarbeitung, deren Symptome ihnen schon längst bekannt waren, die sie aber nicht deuten und nirgends zuordnen konnten. Sie spürten nur immer wieder, dass sie irgendwie anders reagierten, ständig eine innere Unruhe spürten mit stets vielen neuen Gedanken im Kopf, aber auch manches viel besser durchschauten.

 

Die meisten Großeltern von Kindern und Jugendlichen mit AD(H)S, die Probleme in der Kindheit und/oder im Jugendalter hatten, begannen nach Kenntnis der AD(H)S-Problematik viele Ereignisse aus ihrer Kindheit anders zu sehen und konnten so ihr damaliges Verhalten besser verstehen. Allen gemeinsam war, dass sie sich spontan vorwiegend an Negatives erinnerten. Die Frage nach positiven Erlebnissen konnten sie oft erst nach einiger Zeit des Überlegens zögerlich beantworten. Über Schwierigkeiten in der Schule, in der Familie, mit Freunden und bei der Berufsausbildung berichteten fast alle.

 

In den meisten Familiengeschichten mit AD(H)S-Betroffenen 60 plus findet sich eine Häufung AD(H)S-typischer Begleit- und Folgeerkrankungen und dann gibt es in vielen Familien noch einen Außenseiter, zu dem der Kontakt meist abgebrochen wurde.

 

Aus den Berichten der Jugendlichen und ihrer Eltern, sowie der Betroffenen selbst über ihre jetzige Befindlichkeit könnte man die Generation AD(H)S 60plus schematisch in drei Gruppen einteilen:

 

Die erste Gruppe ist mit sich ganz zufrieden, die Betroffenen waren erfolgreich im Beruf und erreichten mit scheinbar gutem Selbstwertgefühl eine gute Lebensqualität.

Sie waren nicht so stark vom AD(H)S betroffen, lernten damit umzugehen und dessen Vorteile genießen. Sie waren mit sich zufrieden, im Beruf erfolgreich, weil sie ihre Kreativität und weitere Vorteile einbringen konnten. Sie hatten einen passenden Partner gefunden (meist natürlich auch mit einer AD(H)S-Veranlagung), sich ein angenehmes soziales Umfeld geschaffen, das sie so wie sie waren, akzeptiert. Sie stehen noch aktiv im Leben, sind geistig und körperlich sehr aktiv und noch immer gefragt wegen ihrer Kreativität. Sie würden es zu Hause auch gar nicht lange aushalten, sie müssen unter Leute und etwas bewegen. Sie sind immer unterwegs als Person oder in Gedanken. Sportvereine, Reisen, Enkelkinder betreuen, freiwillig helfen, Weiterbildungsveranstaltungen besuchen, selbst durchführen oder organisieren, das ist ihre Welt.

Zu dieser Gruppe gehören auch viele bekannte Persönlichkeiten mit hellen Köpfen in allen gesellschaftlichen Bereichen. Es sind die Kreativen, die Erfinder, die Mutigen, die die Gesellschaft voran bringen. Viele Künstler, ehemalige Spitzensportler, erfolgreiche Wissenschaftler, Moderatoren, Talkmaster und Kabarettisten fallen mir ein, denen ich eine AD(H)S-Veranlagung zuschreiben würde. Leider darf ich ihre Namen nicht nennen.

 

Ob diese hervorragenden Persönlichkeiten alle schon über 60 Jahre alt sind, vermag ich nicht zu entscheiden. Denn eines ist sicher, die meisten Menschen mit AD(H)S altern langsamer, sie wirken wesentlich jünger. Ursache dafür mag ihre geistige Kreativität, ihre motorische Beweglichkeit und ihr ständiger Erkundungstrieb sein.

 

Menschen mit AD(H)S sind immer unterwegs, ohne wirklich am Ziel anzukommen, soweit sie überhaupt eins haben. Aber ihr Tatendrang, ihr Optimismus, ihre Kampfeslust, ihr soziales Engagement, ihre Bewegungsfreudigkeit sind es, was sie geistig und körperlich fit hält. Sie dürfen sich nur nicht ausnutzen lassen und sich nicht überfordern, sonst droht ihnen ein Burnout.

 

Beispiele für ihre soziale Hilfsbereitschaft bieten uns täglich die vielen älteren, aber noch sehr aktiven Mitglieder von AD(H)S- und anderen Selbsthilfegruppen, die ihre ehrenamtliche Arbeit mit Begeisterung machen und für Betroffene eine unschätzbare Hilfe sind. Ich habe viele von ihnen persönlich kennen und schätzen gelernt und ihren Elan trotz 60plus bewundert. Das Gefühl gebraucht zu werden und anderen zu helfen ist es, was sie jung erhält.

 

Eine etwa zahlenmäßig gleich große zweite Gruppe von AD(H)S-Betroffenen 60 plus braucht aber unsere Hilfe.

Sie leiden an psychischen und/oder psychosomatischen Störungen unterschiedlicher Schwere, die meiner Meinung und Erfahrung nach größtenteils aus dem AD(H)S-Spektrum stammen. Leider wird das immer noch nicht von vielen ihrer Therapeuten so gesehen, so dass sie noch zu wenig ursachenorientierte Hilfe erhalten. Viele von ihnen werden noch immer nach überholten Standards unzureichend behandelt. Das wäre ein medizinischer Schwerpunkt und ein vorrangiger gesellschaftlicher Auftrag, so schnell wie möglich durch interdisziplinäre Zusammenarbeit die Betreuung dieser Betroffenen zu verbessern.

Leider „verschließen“ sich die Betroffenen dieser Gruppe und sie sind sehr skeptisch gegenüber jeder neuen Erkenntnis. Sie leben oft sehr zurückgezogen, haben resigniert und ihr Leben irgendwie eingerichtet, sich Meinungen gebildet und für sich Strukturen geschaffen, die sie nicht wieder aufgeben wollen und von allein auch nicht können. Die meisten von ihnen haben negative Erfahrungen mit den verschiedensten therapeutischen Hilfsangeboten gemacht. Leider war es auch in der Vergangenheit so, dass keiner so richtig wusste, wie man diesen Menschen wirksam helfen kann.

Zu dieser Gruppe möchte ich auch die Betroffenen zählen, die Ende 50 Anfang 60 sind und ausgelaugt mit letzter Kraft noch ihren beruflichen Pflichten nachgehen. Mit depressiver Verstimmung können sie sich im Beruf nicht mehr behaupten, sie und ihre Vorgesetzten sind unzufrieden. Sie streben eine Frühpensionierung oder den vorzeitigen Ruhestand an.

 

Andere AD(H)S-Betroffene dieser Altersgruppe, die schon frühzeitig arbeitsunfähig wurden, am häufigsten wegen therapieresistenter Depressionen oder Persönlichkeitsstörungen berichten: „Dass sie austherapiert seien oder eine gespaltene Persönlichkeit haben“. Oft verbirgt sich dahinter ein AD(H)S. Konnte es nachgewiesen werden, erfuhren sie die Ursache ihrer Symptome und deren Therapiemöglichkeiten. Tatsächlich konnten nach einer begonnen Therapie einige von ihnen bald wieder ihrem Beruf nachgehen, den Haushalt besser führen und somit ihre Lebensqualität verbessern.

 

Wenn es gelänge, die Mitglieder dieser Gruppe zu motivieren, sich einem AD(H)S-Spezialisten für Erwachsene vorzustellen, könnte vielen von ihnen geholfen werden. Ich meine hiermit nicht nur durch Verschreiben von Medikamenten, davon haben sie meist genug in ihren Schränken, sondern ihnen erst einmal verständlich vermitteln, was sie haben und warum manches in ihrem Leben so anders lief.

 

Aber es gibt leider zurzeit noch zu wenig AD(H)S-Spezialisten für Erwachsene. Der erste Schritt ist getan: Die Medikamente für die Behandlung von Erwachsenen mit AD(H)S sind zugelassen und damit wird AD(H)S offiziell zur definierten Krankheit im Sinne der Krankenkassen. Die Kostenübernahme sollte damit geregelt sein.

Eine medikamentöse Behandlung dieser Altersgruppe ist sehr schwierig, weil viele von ihnen schon an manifesten organischen Erkrankungen leiden, bei denen die Verordnung von Methylphenidat schwierig bis unmöglich ist. Am häufigsten sind es Bluthochdruck, Herzkreislaufprobleme, Depressionen, Borderline- und Angststörungen, Burnout und Suchterkrankungen. Stressassoziierte Autoimmunkrankheiten der Schilddrüse (Hashimoto-Thyreoiditis) oder Fibromyalgie-Symptome fand ich immer wieder gehäuft in dieser Altersgruppe. Ein großes Forschungsgebiet erwartet uns hier in Zukunft, um durch Studien einen möglichen Zusammenhang wissenschaftlich nachzuwiesen.

 

Im ICD 11, der aktuellen Internationalen Klassifikation von Krankheiten, hat AD(H)S bei Erwachsenen erstmalig eine Nummer und eine Klassifikation erhalten. Ein großer Fortschritt und ein wichtiger Meilenstein in der Geschichte des AD(H)S, die bisher von vielen Irrtümern und Unsicherheiten geprägt wurde und noch immer wird.

 

Von diesem wissenschaftlichen Fortschritt könnten die Betroffenen dieser zweiten Gruppe noch profitieren, wenn sie dazu noch die Kraft und den Mut haben. Hierzu gehört eine große Gruppe Betroffener, es sind vorwiegend Frauen, die an Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen leiden oder verhaltensauffällig mit Borderline- Struktur chaotisch, dominant und wenig kooperativ sind.

 

Eine weitere Gruppe von AD(H)S-Frauen 60 plus können ihre jetzt bereits erwachsenen Kinder, die nun selbst schon wieder Kinder haben, nicht loslassen und glauben unentbehrlich zu sein. Sie mischen sich in die Erziehung ein und glauben vieles besser zu wissen. Ihre erwachsenen Kinder mit AD(H)S-Veranlagung und Selbstwertproblematik wagen nicht, sich dieser Bevormundung zu widersetzen. Die dadurch bedingte Pendelerziehung erschwert Erziehung und Behandlung der AD(H)S-betroffenen Enkelkinder. Ein bekanntes Problem für jedenTherapeuten.

Eine weiter Gruppe von Frauen 60 plus mit AD(H)S-Symptomen klagt über Fibromyalgie und chronische Schmerzzustände. Sie haben meist unzählige Therapien hinter sich mit mäßigem Erfolg und bekamen viele Medikamente verordnet, die alle nur der Besserung von Symptomen dienten und nicht die Ursache ihrer Probleme beseitigten. Ich möchte diesen Frauen Mut machen, nach einem möglichen AD(H)S als Ursache für ihre durch negativen Dauerstress bedingten Beschwerden zu suchen. Manchem konnte dadurch schon bleibend geholfen werden.

 

Viele - und das betraf vorwiegend die Männer - hatten hohen Blutdruck und Herz-Kreislaufbeschwerden und nahmen deshalb regelmäßig mehrere Medikamente ein. Bei den Männern dominierte starkes Rauchen und regelmäßiger Alkoholkonsum. Sie erklärten, damit Stress und ihre innere Unruhe herunter zu regulieren, um so ihre Gedanken besser ausrichten zu können.

 

Dauerstress begünstigt stressbedingte Herzkreislauferkrankungen. Die AD(H)S-typische und genetisch bedingte Reizüberflutung verbunden mit Stressintoleranz belasten viele Betroffene lebenslang, wenn es ihnen nicht gelingt, mit Hilfe entsprechenderTechniken ihren Stress zu reduzieren, negativen Dauerstress zu vermeiden und Reizüberflutung zu verhindern.

 

Reizüberflutung bei negativem Dauerstress gepaart mit anlagebedingter Stressüberempfindlichkeit sind die wesentlichen Ursachen für psychische und psychosomatische Störungen nicht nur bei AD(H)S-Patienten über 60. Dabei fungiert der Stress als Bindeglied zwischen psychischer Belastung und psychischer oder psychosomatischer Erkrankung.

 

Deshalb ist das Erlernen eines guten Stressmanagements ein wichtiger Therapiebaustein, wobei wegen der inneren Unruhe, wie sie bei AD(H)S-Betroffenen immer vorhanden ist, die Anwendung von Entspannungstechniken oft schwer fällt. Der Einstieg über die muskuläre Entspannung nach Jakobson gelingt erfahrungsgemäß besser.

 

Zur letzten Gruppe und dritten Gruppe von Menschen mit AD(H)S 60 plus, von denen ich nur über ihre Kinder oder Verwandten in der Praxis erfuhr, sind jene, die glauben, im Leben gescheitert zu sein und sich hoffnungslos und verbittert zurückgezogen haben.

Als Einzelgänger und „Hypochonder“ gehen sie schon lange keiner beruflichen Tätigkeit mehr nach. Sie lehnen jedes Angebot einer Untersuchung ab und wollen von nichts Neuem mehr hören und schon gar nicht von einer neuen Krankheit, die sie haben sollen. Sie leben zurückgezogen, meist sind die Medien ihr einziger Partner und irgendeine Suchtform ist ihr Lebensinhalt. Von ihnen haben einige eine Esssucht und ich begriff, dass es sie wirklich gibt und wie hilflos man ihr ausgesetzt sein kann.

 

Aber zum Glück wird diese Gruppe in Zukunft immer kleiner werden, da sich immer mehr dafür einsetzen, dass AD(H)S im Erwachsenenalter bekannter wird, nicht nur als Krankheit, sondern als Herausforderung, um bei psychischen Störungen nach einer neurobiologischen und genetisch bedingten Ursache zu suchen und diese dann zu behandeln. Denn Menschen mit AD)H)S haben herausragende Fähigkeiten, sie brauchen aber meist eine zweite oder dritte Chance, um diese für die Gesellschaft und zur eigenen psychischen Stabilisierung nutzen zu können.

 

Dann werden wir von den älteren Betroffenen in der Praxis hoffentlich nicht mehr so oft diese Worte hören:

„Mein Leben wäre bestimmt anders verlaufen, wenn ich damals gewusst hätte, was ich heute weiß. Hoffentlich begreifen das möglichst viele, damit die Betroffenen nicht so leiden, wie ich es früher permanent musste und keine andere Wahl hatte.“

            September 2020