Das ADS ohne Hyperaktivität bei Jugendlichen
Jugendliche mit einem ADS vom Unaufmerksamen Typ haben sehr unterschiedliche Probleme, die nicht allein mit Hilfe einer Tabelle zu diagnostizieren sind. Auch bei ihnen sind die Kernsymptome des AD(H)S: Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität, immer vorhanden, aber diskreter, eher „verschleiert“. Deshalb setzt ihre Diagnostik entwicklungs-neurologische Kenntnisse, viel Erfahrung, Einfühlungsvermögen und Verständnis voraus. Denn diese Jugendlichen erwarten vom Therapeuten klare, überzeugende Antworten, Verständnis und keine Belehrungen, sondern eine plausible Aufklärung über die Ursachen ihres Andersseins. Vor allem wollen sie nicht als „psychisch krank“ gelten.
Sie wollen wissen, warum sie nicht wie andere ihre gespürten und wirklich vorhandenen Fähigkeiten im geeigneten Moment erfolgreich einsetzen können, warum ihnen die meisten Vorhaben viel schlechter als erwartet gelingen und sie immer wieder die gleichen Fehler begehen.
Insgesamt leiden sie nicht so sehr unter Verhaltensstörungen, sondern an Schwierigkeiten Gelerntes zu behalten, um es bei Bedarf sofort wieder abrufen zu können. Im Sozialverhalten haben sie eine emotionale Steuerungsschwäche und altersabhängig einen sozialen Reiferückstand.
In der Pubertät strukturiert sich das Gehirn bei allen Jugendlichen um, nur bei ihnen viel später. Hierbei bleiben nur die dick angelegten „Lernbahnen“ erhalten, die bisher nicht benötigten und deshalb weit verzweigten feinen Nervenfasern lösen sich auf. Dadurch kann das Gehirn rationeller und schneller arbeiten. Dieser Reifungsprozess erfolgt beim AD(H)S-Gehirn zeitlich verzögert. Das AD(H)S-Gehirn besitzt viel zu viele dünne und weitläufig verzweigte Nervenfasern. Diese Art der neuronalen Vernetzung beeinträchtigt je nach Schwere des Betroffenseins die Lernfähigkeit, weil Lerninhalte und Vorsätze häufig nicht vollständig die dafür bestimmten Areale im Langzeitgedächtnis erreichen. Auch das ist eine Folge der Reizüberflutung bedingt durch die AD(H)S-typische Stirnhirnunterfunktion. Zusätzlich wird durch Botenstoffmangel die Weiterleitung von Informationen beeinträchtigt, auch das je nach Schwere des Betroffenseins. Nur wenn Jugendliche mit AD(H)S häufig und intensiv üben und das möglichst noch unter Stimulanzientherapie, dann können sich aus den dünnen Nervenfasern dickere „Lernbahnen“ entwickeln. Dicke „Lernbahnen“ sind die Voraussetzung für eine Automatisierung von Lernprozessen, womit man dann schneller und erfolgreicher lernen kann.
Neurobiologisch gesehen bestehen beim AD(H)S ein Mangel an Botenstoffen und eine Reizüberflutung des Gehirns infolge Stirnhirnunterfunktion. Die Folge ist eine besondere Art der Informationsverarbeitung mit Beeinträchtigung der Konzentration, der Daueraufmerksamkeit, des Verhaltens und der emotionalen Steuerung.
Je nach Schwere des Betroffenseins sind die folgenden Symptome unterschiedlich stark ausgeprägt: Zerstreut, verträumt, vergesslich, zu langsam, viel zu empfindlich mit emotionaler Steuerungsschwäche und Leistungsabfall unter Stress. Finden die Betroffenen keine Erklärung für ihr Anderssein, entwickeln sie das Gefühl „nicht verstanden zu werden“. Hilflosigkeit und fehlende Anerkennung trotz Anstrengung beeinträchtigen die Entwicklung eines positiven Selbstwertgefühls. Je intelligenter sie sind, um so mehr leiden sie. Spätestens in der Pubertät spüren sie ihre Defizite in der sozialen Entwicklung deutlich, was zu Selbstwertkrisen, Ängsten, depressiven Verstimmungen, Black-out-Reaktionen und Essstörungen führen kann. Wenn diese Jugendlichen spätestens jetzt keine Hilfe bekommen, beginnen sie, sich selbst zu helfen oder sie resignieren. Viele entdecken Nikotin, stimulierende Substanzen und vor allem Video-Spiele, die auf das Gehirn und besonders auf das Belohnungssystem anregend wirken. Durch den Genuss von Alkohol können sie vorhandene Ängste zeitweilig unterdrücken. Oft haben sie viele „Facebook-Freunde“, die ihnen oft nur Beliebtheit und Anerkennung vortäuschen.
Aber ein AD(H)S-Gehirn verleiht den Betroffenen auch viele Vorteile und Fähigkeiten, man muss sie nur kennen und anwenden können. Nach solchen Fähigkeiten sollte jeder AD(H)S-Betroffene bei sich suchen, um von diesen zu profitieren und sie gezielt zu fördern.
Über folgende positive Eigenschaften verfügen mehr oder weniger ausgeprägt fast alle AD(H)S-Betroffenen:
- Sie sind sehr interessiert an allem Neuen und wissbegierig
- Sie haben eine ausgeprägte Phantasie
- Sie sind kreativ, hinterfragen alles und denken „mehrdimensional“
- Sie haben einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und können Ungerechtigkeiten nur schwer ertragen
- Sie durchschauen Situationen und Menschen oft besser als andere
- Von einer Sache oder einer Idee begeistert, können sie hochkonzentriert arbeiten
- Sie haben ein visuelles Gedächtnis mit bildhaftem Vorstellungsvermögen
- Sie sind sehr sozial, hilfsbereit und spüren, wenn jemand in Not ist
Auch diese positiven Fähigkeiten gilt es bei der Diagnostik herauszuarbeiten in Verbindung mit Fragen nach dem individuellen Entwicklungsverlauf, der Familienanamnese und dem Verfolgen der schulischen Leistungsfähigkeit durch das Lesen ihrer Schulzeugnisse. Ihr Arbeitstempo (z.B. d2-Test, das Lösen von Rechenaufgaben) und ihre visuomotorischen Fähigkeiten (z.B. Muster nachlegen) geben wesentliche Hinweise auf das Vorliegen eines ADS vom Unaufmerksamen Typ. Denn nur, wenn die Diagnose stimmt, kann die Behandlung erfolgreich sein. Nicht selten zeigt sich ein bisher unerkanntes und deshalb unbehandeltes ADS erst im Jugendalter, wenn es durch die Belastungen in der Pubertät zu Komorbiditäten kommt. Deshalb lohnt es sich bei allen Depressionen, Angststörungen, Essstörungen und Suchterkrankungen im Jugendalter nach einem ADS als mögliche Ursache zu suchen. Auch das Asperger-Syndrom ist häufig mit einem ADS kombiniert. Wenn man hierbei ein ADS als Grundkrankheit nachweisen kann, ist die Behandlung der Betroffenen um ein Vielfaches leichter und erfolgreicher. Leider ist der Zusammenhang von ADS und den genannten Komorbiditäten noch viel zu wenig bekannt.
Die Diagnose wird erschwert, weil viele Betroffene mit geringer ADS-Symptomatik und gutem Intelligenzniveau ihre vorhandenen Defizite lange kompensieren können. Dabei müssen sie sich viel mehr anstrengen, um den Anforderungen gerecht zu werden. Sie spüren auch, dass sie vergesslicher, viel empfindlicher, innerlich unruhiger sind und unter Stress oft unkontrolliert handeln. Denn Stress kann ihr Denken und Handeln blockieren und zum Black-out führen. Sie wollen vieles ändern, aber gerade in stressigen Situationen gelingt ihnen das nicht.
Anhaltender Leidensdruck, negative Selbsteinschätzung verbunden mit Hilflosigkeit belastet diese Jugendlichen manchmal psychisch so stark, dass sie multiple Ängste und Depressionen entwickeln, wieder andere reagieren mit einer Essstörung. Weil sie unter Stress weniger Hungergefühl verspüren, können sie leichter als andere Jugendliche abnehmen. Das stärkt ihr Selbstvertrauen, so dass sie ihr Tun und Denken auf Kalorienzählen ausrichten. Ein sich immer wiederholendes Denkmuster bildet feste Nervenbahnen und der Erfolg stimuliert das Gehirn. Ständiges Denken an Kalorienzählen und erfolgreiches Abnehmen kann sich mit der Zeit automatisieren, erst zwanghaft und schließlich zur Sucht werden. Bei anderen Jugendlichen erzeugt Stress Heißhunger, der zu Essanfällen führen kann. Um eine drohende Gewichtszunahme zu verhindern, beginnen manche Jugendlich nach der Nahrungsaufnahme Erbrechen auszulösen. Wird dieser Vorgang ständig wiederholt, kann auch er sich automatisieren und so zur Bulimie werden.
Damit erst gar nicht zu diesen Begleit- und Folgeerkrankungen kommt, sollte die Behandlung so früh wie möglich beginnen. Bringt intensives Üben keinen Erfolg, dann sind Stimulanzien zur Unterstützung der Therapie erforderlich. Deren Gabe sollte immer Teil eines multimodalen Therapieprogramms sein mit individuell angepasster Dosierung. Stimulanzien sollten ganztägig wirken, auch an den Wochenenden und in den Ferien gegeben werden, um den erreichten Therapieerfolg zu erhalten. Die Therapie von Jugendlichen mit ADS erfordert ein gegenseitiges Verständnis und Vertrauen. Sie stellen besondere Anforderungen an den Therapeuten. Er muss ihnen erklären können, warum sie so sind und was sie dagegen tun können. Dann nur sind sie zur aktiven Mitarbeit bereit. Sehr hilfreich sind Eltern, die bereit und fähig sind, als Coach ihre Kinder bei der Umsetzung der Therapie begleitenden Verhaltens- und Lernstrategien zu unterstützen. Jede ADS-Therapie braucht symptomorientierte konkrete Ziele, individuelle Vorsätze und vor allem Erfolge.
Die Erfolge sind der Motor jeder ADS-Therapie, sie motivieren und helfen den Jugendlichen, nicht nur ihre Mängel zu verwalten, sondern auch ihr Gehirn zu trainieren. Das erfordert ausreichende Kenntnisse über die Besonderheiten der AD(H)S-Problematik. Diese sollte sich jeder AD(H)S-Betroffenen durch den Besuch von Selbsthilfegruppen und dem Lesen guter Fachinformationen und Bücher unbedingt aneignen.
Juli 2020